Warum ist es sinnvoll, eine Szene positiv zu starten?

Es gibt mehrere Gründe, warum es sinnvoll ist, eine improvisierte Szene positiv zu beginnen.

Grund 1: Impulse umschulen

Aus meiner Erfahrung neigen die meisten Menschen dazu, unter Stress abwehrend oder abwertend zu reagieren, um sich zu schützen. Das führt dazu, dass 90 Prozent aller Szenen bei Impro-Neulingen (und nicht nur bei diesen) negativ beginnen. Zum Teil ist die Negativität versteckt, es sind kleine Dinge, die nicht stimmen, die man selbst oder mein*e Partner*in nicht richtig macht. „Du bist spät dran.“ ist z.B. ein viel häufigerer Satz als „Toll, du kommst genau im richtigen Moment.“

Wenn wir mit dem Improvisationstheater beginnen, gibt es daher Impulse, die wir „umschulen“ müssen. Einen Plan zu haben und sich nicht davon abbringen zu lassen, kann im Alltag sehr hilfreich sein. Für die Improvisation auf der Bühne ist es eher uninteressant. Meinem Gegenüber angeregt Fragen zu stellen, kann außerhalb der Bühne großes Interesse an meinen Mitmenschen signalisieren, auf der Bühne verrät es jedoch sehr oft Unsicherheit. Denn: Wir neigen dazu, Auskünfte einzuholen, um Verantwortung an den*die andere abzugeben. Ein weiterer Impuls ist das anfängliche Abwehren. Um uns zu schützen, durchaus nützlich im Alltag, für die Bühne aber problematisch. Warum?

Grund 2: Der kreative Prozess

Wenn wir gemeinsam eine Szene/eine Story/eine Situation entstehen lassen, machen wir uns verletzlich. Ich gebe eine Idee und damit ein Stück von mir, und wenn mein*e Mitspieler*in darauf eingeht, befinden wir uns mitten im gemeinsamen kreativen Schöpferisch-sein. Wenn ich nun – unterschwellig oder offen – stets negativ und kritisch (re-)agiere, bekommt mein Gegenüber das Gefühl, das seine*ihre Ideen nicht gut genug sind. Und automatisch fühlt sich der*die andere plötzlich umkreativ. (Ein Experiment, das man übrigens ganz leicht durchführen kann.)

Daher: Positiv sein entlastet meine Mitspieler*innen und hilft dem kreativen Motor auf Touren zu kommen.

Grund 3: Die Fallhöhe

Samstagabend. Im Club. Den ganzen Abend über schon beobachte ich einen attraktiven Mann mit einem umwerfenden Lächeln am anderen Ende des Raumes.

Szenario 1: Ich traue mich, auf ihn zuzugehen und sage ihm, dass ich nicht die Augen von ihm lassen kann und dass ich ihn unglaublich anziehend finde. – Er strahlt mich an, antwortet mir: „Wow, das ist ja toll, dass du mich ansprichst. Darf ich dich auf ein Bier einladen?“  (Wir haben uns beide positiv verhalten.)

Der Beginn einer Story von uns beiden.

Szenario 2: Ich traue mich, auf ihn zuzugehen und sage ihm, dass ich nicht die Augen von ihm lassen kann und dass ich ihn unglaublich anziehend finde. – Er lacht laut und antwortet mir, dass er das von jemandem wie mir nicht hören muss, wendet sich danach an seine Kumpels, um ihnen zu sagen, was für eine traurige Erscheinung ich bin, dass ich es nötig habe, ihn so plump anzusprechen. (Ich habe mich positiv verhalten. Er hat sich negativ verhalten.)

Der Beginn meiner Story.

Szenario 3: Ich traue mich auf ihn zuzugehen. Auf dem Weg dorthin bekomme ich kalte Füße, deshalb sage ich beim Ankommen nur: „Hey du, ich wollte dir nur sagen, dass dein Hemd nicht richtig zugeknöpft ist.“ – Er antwortet: „Kümmere dich doch um deine eigenen Klamotten.“ (Wir haben uns beide negativ verhalten.)

Ende der Story.

Sobald sich (mindestens) eine Figur auf der Bühne positiv verhält, bekommt sie eine Fallhöhe. Sie macht sich verletzlich, weil es etwas gibt, das ihr wichtig ist. Damit wird sie zum einen sympathisch und eignet sich damit für die Zuschauenden zur Identifikation, zum anderen wird es leichter, ihr etwas zustoßen zu lassen und damit eine Geschichte zu erzählen. (Aber es gibt doch auch Impro-Schulen, wo unterrichtet wird, mitten im Konflikt zu starten? Schließt sich das dann aus? – Nein. Aber das würde den Rahmen hier sprengen…)

Nadine Antler, März 2020

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